1. Muharram 1426

1. Muharram 1426 - Neujahr

 

Am 1. Muharram des Jahres 1426 klopft es zögerlich ans Blechgewand Hidalgos.

»Wie spät ist es?«, fragt Gisi murmelnd im Halbschlaf.

Ich werfe einen Blick auf die neben mir hängende Armbanduhr.

»Kurz vor acht! Ich geh‘ mal raus. Als Gast haben wir auch Pflichten.« Schnell ziehe ich mich an und klettere aus unserem Bus. Zwei Paar tiefbraune Rehaugen schauen nach dem ersten Blickkontakt zur Seite. Cherifes liebenswürdige, halb verschleierte Frau Fatima, und seine ebenso den Mund verhüllende Tochter haben uns frische Kuhmilch, sowie selbstgebackenes, ofenfrisches Fladenbrot mitgebracht.

»Es schmeckt köstlich«, wie auch Gisi bestätigt, die inzwischen angelockt durch den Brotgeruch aus Hidalgo aufgetaucht ist.

Sie bietet im Gegenzug mit Gesten Nutella und ich frischen Kaffee an, worüber sich die beiden schüchternen Frauen sehr freuen.

Kurz darauf blubbert auf dem leise fauchenden Benzinkocher unsere Caffettiera, die italienische Mokkamaschine, von der Fatima besonders fasziniert ist. Da die beiden nur Arabisch sprechen, versuchen wir, uns neben den Gesten auch mit unserem Ohne Wörterbuch – einem Bilderwörterbuch von Langenscheidt – zu verständigen. Es gelingt uns mit den 500 Piktogrammen die eine oder andere einfache Situation des Alltags zu erklären, doch wesentlich wichtiger ist für uns, dass wir damit eine rudimentäre nonverbale Konversation in Gang bringen können. Fatima und ihre Tochter finden vor allem die Zeichnungen von den Meerestieren spannend und lustig anzusehen, womit das Eis gebrochen ist und die Mundschleier zu meiner Überraschung plötzlich weggezogen werden. Ich scheine den Status eines Onkels in einem liberalen hiesigen Haushalt zuerkannt zu bekommen, bei dem die islamischen Konventionen nicht so streng eingehalten werden. Die beiden beginnen unbefangen mit mir und Gisi zu scherzen, wobei sie auch immer wieder lauthals losgluckern.

WAU! WAU! WAU!, meldet der Hofhund pflichtgetreu einen männlichen Gast.

Tarik, der Arabisch- und Französischlehrer, steuert beschwingten Schrittes auf uns zu. Sofort ziehen Fatima und ihre Tochter die Tücher vor den Mund und verhalten sich wieder wie Rehe. Der zarte Lehrer mit den auffallend weißen Zähnen fragt uns, ob wir nach dem Frühstück auf einen kleinen Spaziergang mitkommen würden; der Stausee sei nicht weit von hier.

»Gerne«, antwortet Gisi. »In einer halben Stunde sind wir fertig.«

Sobald Tarik außer Sichtweite ist, verwandeln sich die ›Rehe‹ erneut in selbstbewusste Frauen. Nachdem die verhüllenden Tücher beiseite gewandert sind, scherzen die beiden wieder unbefangen mit uns bis zum Ende unseres gemeinsamen Frühstücks.

Schon bald, nachdem wir unsere Kochkiste und die Vorräte im Bus verstaut haben, werden wir von Tarik und seinem athletischen Kollegen Radwon abgeholt. Mit dem witzigen Lehrer sind wir bereits gestern Abend nach dem Fußballmatch ins Plaudern gekommen.

»Wisst ihr, dass heute ein besonderer Tag ist?«, fragt Radwon mit seiner angenehmen, sonoren Stimme.

»Non! Nein!«

»Heute ist der 1. Muharram 1426, unser Neujahrstag.«

»Nach dem islamischen am Mond orientierten Kalender«, ergänzt Tarik.

Wir wandern querfeldein in der kargen Hügellandschaft umher. Der komprimierte Sandboden ist oft nicht einmal von Pflanzen befestigt, wodurch diese Bereiche besonders der Erosion ausgesetzt sind. Deshalb wundert es uns nicht sehr, dass Disteln zu den größeren Gewächsen der Gegend zählen. Sie rascheln beim Flattern im Wind. Der heult an diesem 10. Februar so stark, dass wir uns während besonders kräftiger Böen dagegen lehnen können. Langgezogene Wolken mit graublauen Strukturen sausen wie eine von Löwen verfolgte Zebraherde über einen saphirblauen Himmel, wodurch der Idriss Al Awuelle Stausee in den verschiedensten Nuancen von Blau und Türkis wie ein Geschmeide zu uns heraufleuchtet. Es ist die ideale Kulisse für unsere heutige Reise ins Jahr 1426.

Wir fühlen uns wie auf einer Uni-Exkursion in die Vergangenheit, wobei Tarik und Radwon die Professoren mimen. Nicht immer verstehen wir auf Anhieb, was unsere beiden Lehrer erzählen. Vor allem Tarik macht es sich deshalb auch zur Aufgabe, unsere Französischkenntnisse ein wenig zu vertiefen; er beweist dabei eine Engelsgeduld mit uns beiden. Mit Tariks Hilfe werden wir innerhalb von einer knappen Woche weit mehr von unseren Schulfranzösischkenntnissen auffrischen können, als während unseres gesamten Kurses an der Volkshochschule im Rahmen der Reisevorbereitungen. So einen Lehrer hätten wir uns beide schon zu Schulzeiten gewünscht.

Flott marschieren wir im Zickzack in Richtung des Stausees hinunter, wobei uns Tarik und Radwon ständig neue Sachen zeigen. Radwon hebt eine eigentümliche Pflanze vom Boden auf.

»Die getrockneten und besonders harten Blütenstempel sind ideale Zahnstocher.« Er bricht ein Stück heraus und gibt es mir in die Hand.

Versuchsweise stochere ich damit im Mund herum.

»Nicht schlecht. Stimmt!«

»Die ganze Pflanze wird neben Schilf, Holz und einem Gemisch aus Lehm und Stroh auch für das Dach der Gehöfte verwendet.«

Inzwischen sind wir an einem verfallenen Hof am Ufer des Sees angekommen.

»Kennt ihr den Hauptvorteil solcher Bauten?«, fragt Tarik in den heulenden Wind.

»Die sind angenehm kühl«, antwortet Gisi schnell.

»Das natürlich auch. Das Wichtigste ist für die Leute hier, dass die Baumaterialien umsonst sind.«

Tarik geht mit uns ums Haus herum und zeigt uns an einer defekten Stelle den Aufbau der Mauer.

»Seht ihr. Lehmziegel verputzt mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh.«

Jetzt will es Gisi ganz genau wissen.

»Woraus besteht die helle Farbe an den Wänden?«

»Zeige ich euch gleich, woher die kommt. Wir gehen dann hinunter zu der Stelle, wo sie die Bauern holen. Die Höfe werden fast jedes Jahr mit einer lehmigen Milch daraus getüncht. Am Ufer des Sees ist der Lehm ganz hell.«

Nachdem uns die beiden die Stelle mit dem naturweißen Lehm gezeigt haben, steigen wir wieder ein wenig höher hinauf, um zum Gehöft ihres Freunds – dem wettergegerbten Bauern La’Hssan – zu gelangen, das typisch für die Gegend ist. In der Mitte befindet sich ein zentraler Hof, um den rundherum die Häuser für die Familie, die Küche und ein großer Gästeraum angeordnet sind. Die Ställe sind um eigene Nebenhöfe platziert. Dadurch wird der Wohnbereich elegant vom Arbeitsbereich mit seinen intensiven Gerüchen getrennt. Leider fehlt die Toilette, doch Gisi muss dringend. Sie wird einfach zu den lautstark protestierenden Hühnern geschickt.

Der mit einem dunkelblauen Kaftan über einem blitzend weißen Hemd gekleidete Familienpatriarch bittet uns in den langgestreckten Gästeraum hinein. Wir nehmen auf Kissen Platz, die an den Wänden entlang auf einem niedrigen, gemauerten Podest liegen. Gisi erhält als westliche Frau einen Männerstatus zuerkannt; die Frauen des Bauernhofs lugen nur ab und zu zur offenen Türe, der einzigen Lichtquelle des Raumes herein.

Nach dem obligatorischen Tee lässt uns La’Hssan köstliches Safranhühnchen mit vielen Eiern, Olivenöl zum Tunken und Brot auftischen. Als Nachtisch bekommen wir Orangen und Äpfel serviert. Die ganze Zeit über gibt La’Hssan – der sich als verhältnismäßig liberal in seinen Ansichten entpuppt – eine köstliche Geschichte nach der anderen zum Besten, wobei uns Tarik mehr oder weniger simultan übersetzt.

Nach dem Essen soll ich helfen Krankheiten zu behandeln. Eine der jüngeren Frauen hat um die gesamte Bauchgegend herum bis zu den Brüsten hinauf eigenartige Dübel mit schwarzen Einschlüssen, die mir verdächtig nach Stechwarzen aussehen.

»Die sind nicht besonders gefährlich, gehören jedoch von einem Arzt behandelt. Das Virus breitet sich sonst immer weiter aus und es werden immer mehr«, übersetzt Tarik für mich. »Üblicherweise werden sie erfroren oder verätzt, dann fallen sie von selbst ab.«

»Wie lange hat sie die schon?«, frage ich.

Tarik erkundigt sich.

»Schon einige Jahre!« Er fügt hinzu: »Damit geht sie sicher nicht zum Arzt.«

Als Nächstes wird La’Hssans ältester Sohn Ali hereingeführt. Der sehnige Bursche habe ein Problem mit dem Mittelfinger, wie mir Tarik übersetzt. Ich untersuche die Hand und bin perplex.

»Der ist ja eindeutig gebrochen. Frage ihn, wie lange schon?«

Tarik erkundigt sich.

»Bald zwei Wochen.«

»Ali braucht einen Gips. Wenigstens er muss zum Arzt!«

»Du bekommst diese Leute nur im äußersten Notfall zum Doktor.«

»Sage ihnen, das hier sei ein Notfall!« Tarik versucht Ali und seinen Vater La’Hssan zu überreden, einen Arzt aufzusuchen, doch es ist vollkommen zwecklos.

»Dann muss ich versuchen den Finger zu schienen. Ali soll nachher mit uns mitkommen. Die Sachen habe ich im Bus.« Ob ich den gerade zusammenbekomme?, frage ich mich zweifelnd; auf der anderen Seite, wenn Ali nichts tut, wird es noch schlimmer.

Ein paar Stunden später, nachdem wir zuvor noch einige Male bei anderen Gehöften zukehrten, habe ich Ali zurück bei unserem Bus – so gut ich kann – geschient. Na besser als nichts!, versuche ich meine Bedenken zu zerstreuen, doch mir bleiben Zweifel.

»Du darfst mit dieser Hand die nächsten drei bis vier Wochen nichts tun!«, bitte ich Tarik zu übersetzen. »Absolut nichts, sonst ist alles umsonst gewesen. Wenn es danach noch immer weh tut, gehe bitte zu einem Arzt!«

Tarik bedankt sich im Namen Alis, doch das mit dem Arzt könne ich getrost vergessen.

Ich muss schlucken, äußere mich jedoch nicht mehr zu diesem Thema, denn letztendlich ist jeder für seine Gesundheit selbst verantwortlich.

Kurz vor Sonnenuntergang an diesem 1. Muharram des Jahres 1426 macht sich Ali auf den Rückweg zum Gehöft seines Vaters La’Hssan.