Niemandsland Tschadsee: Orkan
Niemandsland Tschadsee: Bewaffnete

Orkan und Bewaffnete im Niemandsland zwischen Niger und Tschad

Weite, endlose Weite. Die Sahara hat in den letzten Jahrzehnten den Tschadsee immer weiter verdrängt und so fahren wir am Nachmittag auf einer stark komprimierten Sandebene dahin. Sie ist von schmutzigem Ocker, durchsetzt mit hellen Sprenkeln, bis zum Horizont reichend, und selbst die für das Sahel so typischen alleinstehenden Büsche sind seit einer Viertelstunde verschwunden – als wären wir auf die Oberfläche des fernen Saturnmondes Titan geraten.

Hidalgos Dieselmotor brummt vor sich hin.

»Über eine Stunde kein Tiefsandfeld mehr. Das ist Rekord!«, sagt Gisi gut gelaunt, während sie einen imaginären Punkt mit dem GPS-Empfänger markiert. Sicherheitshalber trägt sie die Daten auch in ein Heft ein, damit wir im Notfall aus diesem Wüstenlabyrinth den Weg zurück nach N’Guigmi finden könnten.

»Wann schätzt du, dass wir die Tschadgrenze erreichen?«, fragt Gisi.

Ich lege meine Hand auf ihre.

»Wir schaffen es sicher vor Sonnenuntergang. Ganz sicher!« Ich fühle mich heute so lebendig und aufgekratzt wie selten noch im Leben. Werden wir es ohne Allradantrieb schaffen? Haben sich so die Pioniere früherer Zeiten gefühlt? Während ich darüber nachdenke, beginnt sich aus dem kobaltblauen Himmel ein Unwetter vor uns am Horizont zusammenzubrauen.

Rasend schnell.

Ocker überzieht das Firmament. Keine zehn Minuten später tröpfelt es. Die Farben des Sandbodens verwandeln sich in schmutziges Braun. Ich fahre vorerst weiter, bis wir uns über die neue Situation im Klaren sind. Bei starken Regenfällen dürfen wir uns keinesfalls auf Seeniveau oder gar in einer Senke befinden.

»Wie hoch sind wir?«, frage ich.

Gisi vergleicht die Höhenangaben am Display des GPS-Empängers mit ihren Aufzeichnungen der letzten Stunden.

»Wir sind im Schnitt 15 Meter höher als die Zeit davor!«

»Sehr gut, denn von da vorne kommt etwas Gewaltiges auf uns zu. Das gibt’s doch nicht!«

Wir glauben unseren Augen nicht zu trauen.

Eine gigantische Sandwalze rast auf uns zu. Ich mache einen U-Turn. Drehe das Heck Hidalgos in Richtung des Sturmes. Nur wenige Augenblicke später überrollt uns die sandige Naturgewalt mit einem schabenden Geräusch, gefolgt von heftigsten Regengüssen. Mit brutaler Kraft hat uns der heulende Orkan im Griff.

»Irre! Das ist vollkommen irre!«, brülle ich gegen den infernalischen Lärm ankämpfend.

Wir sehen zur Windschutzscheibe hinaus. Meinen mit gut 120 Kilometern pro Stunde rückwärts dahinzurasen; dabei stehen wir! Gewaltige Wassermassen werden an uns vorbei gepeitscht. Hidalgo beginnt sich durch den Winddruck langsam in Bewegung zu setzen. Ich steige voll in die Bremsen. Unser Bus wackelt und schüttelt sich in einem fort. Unwillkürlich muss ich an einen Hund denken, der Wasser aus seinem Fell beutelt. Zum Glück sind wir mit zusätzlichen Diesel- und Wasserkanistern um 260 Kilogramm schwerer als sonst.

Der Lärmpegel wird unerträglich.

»Wahnsinn, diese Naturgewalten!«, schreit mir Gisi ins Ohr.

Sie beginnt das Spektakel zu genießen, während ich eine Filmsequenz mit unserem digitalen Fotoapparat drehe.

»Das glaubst nicht! Das sind ungefähr 120 km/h«, kommentiere ich begeistert das Inferno. »Das ist ein Orkan. Ich habe so etwas einmal in Patagonien erlebt, nur dass man es dort nicht so gesehen hat. Irr!«

Zwei Stunden später steht Hidalgo blankgeputzt im goldenen Abendlicht, allerdings befinden wir uns noch immer im rund vierzig Kilometer breiten Niemandsland zwischen Niger und Tschad, wobei Grenznähe an sich schon eine ungute Sache ist, doch hier weithin sichtbar stehen bleiben und übernachten zu müssen hat bereits etwas Surreales. Eine absurde Situation. Mein sardonisches Lachen lässt mir die Tränen in die Augen steigen.

»Das passiert uns ausgerechnet um den Tschadsee! Das ist genial!«

»Urbain ist das letzte Mal mit einem schwer bewaffneten Konvoi um den See gefahren«, stimmt Gisi in mein Gelächter mit ein. »Ich weiß nicht, warum ich das so lustig finde.«

»Das ist ... das ist ... das ist Galgenhumor!«

Mit einem mulmigen Gefühl schlafen wir erst spät in der Nacht ein.

 

Wir sind beim Frühstücken, als Gisi auf der kahlen Sandebene einen schnurstracks auf uns zusteuernden Pick-up entdeckt. Mit einem knurrenden »So ein Scheiß’!«, springt sie auf und holt unser sowjetisches Fernglas aus Hidalgo.

»Meine Hände zittern zu sehr. Fang!«

Gisi wirft mir den Feldstecher herüber.

Ich hebe ihn an die Augen, um die Lage zu sondieren: »Ein knappes Dutzend Bewaffneter mit Kalaschnikows und das andere sind wahrscheinlich deutsche G3-Sturmgewehre. Einige tragen bunt zusammengewürfelte Uniformen, andere normale Kleidung.« Ich atme schnell und spähe weiter. »Ein paar ziehen gerade ihren Turban vors Gesicht; wie Rebellen. Na, mit denen kann man wenigstens verhandeln«, sage ich so zuversichtlich wie möglich mit dem wahr gewordenen Albtraum vor der Linse. Mein Herz pocht bis zu den Schläfen. Dröhnt in den Ohren. »Hoffentlich sind es Rebellen und keine Banditen.«

Gisi grinst gequält.

»Immer schön freundlich bleiben ist unsere einzige Chance und ja keine Angst anmerken lassen.« Sie packt meine Hand. Ich drücke fest zurück. Hypnotisiert starren wir auf das auf uns zurasende Fahrzeug und bleiben stumm – bereiten uns innerlich vor.

Drei Minuten später.

Der weiße Pick-up hält in rund fünfzehn Metern Entfernung schräg hinter unserem Bus. Die Männer springen mit ihren Waffen in Händen von der Ladefläche. Dabei fällt einem jungen Burschen vor lauter Nervosität sein deutsches G3-Schnellfeuergewehr auf den komprimierten Sandboden. Zeitgleich springt aus der Fahrerkabine ein Mann in Uniform heraus. Mit roten Schulterspangen und einem grellroten Barret am Kopf. Eine Pistole steckt beruhigenderweise noch in seinem Gürtelhalfter.

Er sieht uns wütend an.

»Was macht ihr hier?«

»Gestern hat uns der Orkan mit dem Regen überrascht!«

Die anderen Männer inspizieren in der Zwischenzeit ungeniert unsere Sachen vor Hidalgo. Ein Bewaffneter mit einem von einem gelben Tuch umrahmten Gesicht nimmt seine runde Sonnenbrille ab. Stellt sein G3 neben sich.

»Ich will den Kanister haben! Und den Kocher!« Danach sieht er zuerst mir, dann Gisi in die Augen: Aggressiv, fordernd, zornig.

Wir lächeln freundlich, die Situation kann sonst schnell ins Negative kippen. Gisi löst sich von mir. Sie geht auf den Mann mit dem G3-Gewehr zu, um scherzend zu kontern: »Ich hätte auch gern vieles. Beispielsweise ein Haus.«

Die Männer lachen.

Gisi hat genau den richtigen Ton getroffen: Die aggressiven Worte der Bewaffneten verwandeln sich von einem Moment auf den anderen in freundliches Geplänkel. Ich bin in dieser Situation heilfroh, weibliche Unterstützung an meiner Seite zu haben.

»Keine Sorge, wir sind Soldaten aus dem Niger«, sagt der Anführer der Truppe, was ich ihm nicht abnehme; ich tippe auf eine Rebellenfraktion, deren Boss uns soeben als ungefährlich einstuft hat.

Die Situation wird immer entspannter, die Atmosphäre freundschaftlich, ins Kumpelhafte gehend. Wir lächeln so viel wir können. Die ›Militärs‹ wollen sogar, dass wir mit ihnen für ein martialisches Foto samt Kalaschnikows und G3-Sturmgewehren posieren und Adressen austauschen.

Unglaublich, vor fünf Minuten waren wir noch nicht einmal sicher, ob sie uns nicht überfallen würden. Die Schwierigkeiten in den Ländern nahmen in den letzten sechs Monaten stetig zu, haben uns auf solche Situationen vorbereitet!, denke ich befreit.

Der Boss der Truppe reißt mich aus meinen Gedanken.

»Wir müssen weiter!«

Die ›Militärs‹ verabschieden sich freundschaftlich und setzen ihre Inspektionstour fort. Erleichtert verfolge ich die Staubfahne ihres davonrasenden Pickups bis an den Horizont. Danach setzen wir unser so jäh unterbrochenes Frühstück fort.