Congoflussfahrt II: Afrikanische Heils- und Glaubenswelten

Vor über neun Monaten sind wir ? Gisela und Rüdiger ? mit unserem umgebauten Ford Transit, den wir Hidalgo getauft haben, von Österreich beginnend über Westafrika bis in die Zentralafrikanische Republik gefahren.

Inzwischen befinden wir uns seit bald zwei Wochen am Grenzfluss zwischen den beiden Kongos ? der RK, der Republik Kongo und der DRK, der Demokratischen Republik Kongo.

 

Auf einer der schiffseigenen Pirogen neben der Dauphin wird eine vor zwei Tagen verstorbene Kuh feinsäuberlich zerlegt. Die Nomaden hatten sie vergeblich zu verkaufen versucht. Der Kadaver stinkt inzwischen zum Himmel. Die Männer halten sich Tücher vor die Nase. Wenig später köchelt rundherum das verdorbene Fleisch über den Kohleöfen. Wir müssen uns beinahe übergeben, so bestialisch ist der Gestank. Selbst wenn ich am Verhungern wäre, würde ich das Fleisch nicht anrühren. Matondo sieht das jedoch ganz anders als der komische Weiße, der einem ja auch gar nichts gönnt.

Wir flüchten mit Schwester Dorothy zu den Nomaden, die das vergammelte Fleisch wohlweislich nicht anrühren.

»Das halten nur die Schwarzen aus!«, erklärt mir der hellhäutige, arabischstämmige Dieu Graçias mit einem breiten Grinsen. Sein Boss Ali liegt ziemlich fertig neben einer Ladeluke auf einer Matte. Der Marabu drückt die breite Öffnung eines Kuhhorns fest auf seinen schmerzenden Brustkorb. Die Spitze des Horns ist so abgesägt, dass der Heiler nun die Luft absaugen kann. Sobald das ?schlechte Blut? an der Ansatzstelle zu sickern beginnt, verschließt der Marabout die kleine Saugöffnung mit Bitumen. Die für uns archaisch anmutende Schröpfbehandlung wiederholt sich mehrere Male, auch direkt an den Rissquetschwunden. Obwohl Ali immer wieder aufstöhnt, scheint ihm die Behandlung zumindest psychisch gut zu tun.

Der islamisch angehauchte Marabu ist im schwarzen Westafrika und im dunklen nördlichen Ostafrika das Gleiche, wie der Féticheur in Zentralafrika. Diese Marabus haben nur mehr wenig mit den streng islamischen Gelehrten des nördlichen Afrikas gemein.

»Wisst ihr, welche Bedeutung die Toten bei uns haben?«, fragt uns die selbstbewusste Schwester Dorothy vom katholischen Armutsorden der Kinder Christi in Benin, während sie neugierig dem Marabu über die Schultern blickt.

Und ob wir dies inzwischen wissen! Bei den meisten Völkern Afrikas verehren und fürchten die Menschen die Toten zugleich. Beispielsweise werden den Verstorbenen auch die Schuhe mit aufs Grab gegeben, damit sie nicht mehr ins Haus zurückkehren können.

»Manche Tote, besonders wenn sie gewaltsam gestorben sind, bleiben noch sehr nahe bei der Familie. Sie akzeptieren ihren eigenen Tod nicht! Erst, wenn der Marabu den Toten dazu bringt, seine Schuld einzugestehen, kann er zu den anderen Ahnen. Beispielsweise wenn jemand einen Streit begonnen hat, der zu seiner Tötung führte, kann er erst zu seinen Vorfahren, wenn er seine Mitschuld anerkennt.«, erklärt Dorothy vom Armutsorden die uns fremd erscheinende Logik. Dabei schwankt sie zwischen Ablehnung und tolerierender Akzeptanz der alten Glaubenswelten.

Der Nomadenführer hat inzwischen einen entrückten Gesichtsausdruck. Dorothy sieht ihn lange an.

»Ali glaubt fest an die Behandlung. Die Schmerzen sind anscheinend weit weg!«

 

Ich glaube an etwas ganz anderes ? an die Magie einer unsichtbaren Linie. So wie es aussieht, werden wir heute Nacht den Äquator überqueren. Wir befinden uns mit den herzlichen Menschen um uns herum im grünen Zentrum Afrikas. Immer wieder machen wir uns gegenseitig Geschenke ? Orangen, Zucker oder Safu. Henri schenkt uns sogar einen Fisch und Brot! Zentralafrika ist so schön, wild, faszinierend und grausam ? mit einem Wort, wir haben diesen Kontinent zwischen Himmel und Hölle in seiner Einzigartigkeit liebgewonnen.

Tatsächlich! Um 2 Uhr 55 passieren wir den Äquator. Der schwarze Ubangui ist einem Riesenlabyrinth gleich, von Flussinseln durchsetzt. Sternklarer Himmel! Um uns, wie seit Tagen, die weite Wildnis. Leuchtet da nicht ein Feuer in der Ferne? Die Dieselmotoren der Dauphin stampfen beruhigend im Takt. Henri und sein hitziger Steuermann Alidou sind die Einzigen auf der Brücke. Sonst schlafen alle ? wie immer auch ein paar vor Hidalgo auf ihrer Matte. Kein Schild am Ufer verkündet den Äquator. So eine Pleite! Ich warte auf ein besonderes Gefühl. Nichts! Einzig mein GPS verrät mir die magische Linie. Herrlich unspektakulär. Was habe ich mir eigentlich erwartet?

 

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