Verloren im Dschungel Venezuelas

September 1997. Tief im Dschungel fast bis zur brasilianischen Grenze reichend liegt die Gran Sabana, dass große Grasland von Venezuela. Einst war alles Urwald, der jedoch langsam im Laufe von Jahrhunderten von den Indios für Felder niedergebrannt wurde. Als ich mit Gerhard und Jörgi in einer winzigen zweimotorigen Maschine über die beeindruckende Landschaft fliege sehe ich überall kleine Buschfeuer ? meine den Rauch förmlich zu riechen. Raoul, der Pilot klärt uns auf.

»Sie brennen heutzutage das Land auch aus lauter Verzweiflung nieder! Hoffen damit ihre Götter zu besänftigen.« Ob er damit recht hat?

Wir fliegen weiter zwischen den Tepuis, den Tafelbergen über einer unfassbaren Urlandschaft. Es würde keinen von uns wirklich überraschen einen überlebenden Saurier zu sehen. Links donnern alle paar hundert Meter Wasserfälle über die Kanten eines Tepuis. Rechts fliegen rote Aras wenige hundert Meter schräg unter der Maschine.

 

Angel Wasserfälle

Doch zunächst von vorne. Es ist kurz nach vier Uhr am Morgen. Wir befinden uns mit einem kleinen Boot auf dem Weg zum Salto Angelo, dem mit fast einen Kilometer direkter Fallhöhe höchsten Wasserfall der Welt. Der amerikanische Flieger Jimmy Angel sichtete das nasse Wunder als 1933 und machte es berühmt. Zuvor berichtete 1919 der Venezuelaner Ernesto Sánchez la Cruz von diesem Naturwunder. Entdeckt haben es natürlich wohl schon vor tausenden Jahren die Indios. Gegen elf Uhr könnten wir einen ersten Blick auf den unglaublich hohen Wasserfall werfen. Doch er ist von dichten Wolken bis zur Mitte seiner Fallhöhe eingehüllt. Frustriert machen wir uns auf den Weg durch den feuchten Dschungel. Eine dreiviertel Stunde später sind wir bis auf wenige hundert Meter an den tosenden Wasserfall vorgedrungen. Gischt benetzt ganz sanft unsere Haut, die Wolken scheinen dünner geworden zu sein. Mehr Wasser als sonst, da es die ganze Nacht durchgeregnet hat. Wir gehen weiter, um so nahe wie möglich an das Naturwunder heranzukommen. Traumhaft. Zehn Minuten später stehen wir unten während sich die Wolken langsam wie durch Zauberhand auflösen. Ich bin sprachlos genauso wie Gerhard und Jörgi, die mit erstauntem Blick emporblicken.

»Lasst uns schnell wieder zum höher gelegenen Punkt zurücklaufen. Dort haben wir eine bessere Gesamtansicht!«, locke ich die beiden.

Wir hetzen in wenigen Minuten den Urwaldpfad hoch. Setzen uns auf einen großen Stein mit Blick auf das Naturwunder. Jörgi, Gerhard und ich schauen und schauen eine dreiviertel Stunde lang ohne viel zu sprechen. Ein Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit überkommt mich. Fast wie in Trance schieße ich vom tosenden Wunder meine Fotos mit der alten Nikon FM.

 

Verlaufe mich auf wenigen Metern

Mache mich vor Jörg und Gerhard auf den Rückweg, da ich mit meinen Gedanken alleine sein möchte. Da passiert es, ich achte kurz nicht auf den Weg und befinde mich mitten im Dschungel.

»Idiotisch! Bin ich jetzt zehn oder zwanzig Meter vom Weg abgekommen? Kann doch nicht so schwer sein zurückzufinden.«, denke ich noch voller Optimismus.

Ich drehe mich auf der Stelle einmal um mich selbst. Alles grün. Sieht irgendwie alles gleich aus. Laute werden verschluckt wie in einem Zauberwald. Als Indio hätte ich mir wohl eine Liane oder sonst etwas gemerkt, doch ich Anfänger habe nicht den Funken einer Ahnung, woher ich gekommen bin.

»Ganz ruhig bleiben!«, bekämpfe ich meine aufkeimende Angst. Mein Magen schneidet.

»So du Held. Hast doch genügend von Rüdiger Nehberg gelesen. Was würde er wohl jetzt machen?«, spinne ich den inneren Dialog fort.

»Systematisch und ruhig die ganze Sache angehen!«

Ich lege meinen Rucksack, ab um einen Orientierungspunkt zu haben. Gehe in alle Richtungen immer mit dem Rucksack in Blickweite. Schaffe kaum mehr als acht Meter auszukundschaften. Ich habe noch so was von keiner Ahnung. Bücherwissen und Praxis sind eben zwei verschiedene Dinge.

»Mist! Das kann doch nicht sein.«, ärgere ich mich noch immer über meine eigene Unachtsamkeit. Dann kommt mir eine neue Idee ? Plan B.

»Warte halt einfach bis du Menschen am Urwaldpfad hörst. Sind schließlich genügend oben beim Wasserfall. Gerhard und Jörgi müssten auch bald kommen.«

Ich lausche ein paar Minuten. Höre nichts.

»Mist! Bin ich vielleicht doch weiter vom Weg abgekommen als gedacht?«, plagen mich ernste Zweifel.

Endlich nach einer Viertelstunde höre ich Stimmen von ein paar Venezuelanern, gehe ihnen nach! Ich bin zehn bis höchstens fünfzehn Meter vom Dschungelpfad abgekommen.

Unglaublich! Lachhaft? Ich hätte nie zuvor im Leben gedacht, dass man so schnell verloren gehen kann. In unseren Wäldern gehe ich schließlich gerne querfeldein, finde immer wieder auf den Weg zurück.

 

Lehre fürs Leben

Das ist mir eine Lehre fürs Leben. In Zukunft achte ich wesentlich genauer auf den Weg im Dschungel, versuche das grüne Dickicht auseinander zu halten, knicke ein paar Äste um und präge mir ein paar Auffanglinien ein, die ich mit meinem Kompass im Notfall ansteuern kann. Jahre später finde ich auch nach längeren Ausflügen durch den Urwald wieder zurück. Eine Machete habe ich jetzt auch dabei. Tja, aller Anfang ist schwer...

 

Sturzflug

Wir drehen einige Runden vor dem Salto Angeo. Für Raoul alltägliche Routine. Für uns eines der Weltwunder bevor wir weiter in Richtung St. Elena an der Grenze zu Brasilien fliegen.

 

Am Rückweg meint Raoul in seiner coolen Art:

»Tut mir leid Jungs! Muss sein!«

Der winzige Flieger geht in einen Sturzflug über. Regen prasselt ans Fenster und raubt uns die Sicht. Die Zeit dehnt sich am Weg in die Tiefe. Gerhard steht das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Jörgi und ich können uns vor Begeisterung kaum halten. Adrenalin pur! Rund dreihundert Meter über Grund fängt Raoul die Maschine ab.

»War notwendig! Sonst hätte uns das Gewitter erwischt.«

 

[Rüdiger]

 

Fotos folgen, sobald sie eingescannt sind - dauert sicher ein wenig ...